eine Veröffentlichung von mir

ist in "Der welt am Sonntag" erschienen: Reflektionen zur Thema Migration:

26.04.2015

 

"Eine meiner ersten Erinnerungen als Wahl-Berlinerin war die trostreiche Anonymität der Stadt. Das fast magische Gefühl, niemanden zu kennen, niemandem etwas schuldig zu sein oder sich jemandem gegenüber schuldig zu fühlen. Die innere Familien-Kultur in Israel arbeitet viel mit versteckten sowie offenkundigen Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Ein altbekannter Witz dazu erzählt von einer Mutter, die zur Tochter sagt: "Geh du schon, es ist wirklich in Ordnung. Geh und lass mich hier allein: ohne Licht und Wasser!" Der nonverbale Untertitel dazu: Wenn du gehst, wirst du von furchtbaren Schuldgefühlen heimgesucht. In Berlin, frei von Projektionen und Erwartungen der anderen, durfte ich ein ganz neues Bild von mir zeichnen. Ein Bild, dessen Farben und Konturen sich jeden Tag neu zeigten. 

 

Eine weitere Erinnerung an die neu entdeckte Freiheit ist ein Gefühl der "Vernebelung der Sinne", ein Sonder-Zustand, der ans Licht tritt, wenn man/frau die deutsche Sprache nicht versteht. 

 

Um überhaupt etwas mitzubekommen, musste ich alle Sinne schärfen und lernen, ganz intensiv zuzuhören. Ohne diese Konzentration verstand ich einfach nichts und hatte nur zwei Möglichkeiten: Erstens, entweder alles auszublenden, in meiner Welt zu bleiben, was manchmal eine wunderbarer Zustand ist, der leider verloren geht, sobald man eine Sprache fließend beherrscht, oder zweitens, mir anhand nonverbaler Ahnungen Geschichten zu erfinden. Der Klang der Stimmen, die Härte von Bewegungen, die Herzlichkeit eines Lächelns, die Offenheit oder Verschlossenheit von Gesichtern. Das hat sicher meinen Fantasie-Welten eine gute tägliche Übung gegeben. 

 

Ich musste allerdings feststellen, dass auch die deutsche Körpersprache sich wie eine Fremdsprache verhält. Mit ganz anderen Gesten, Deutungen und Bedeutungen, die ich neu lernen musste. Natürlich durch learning by doing – was auch manchmal genau heißt, ins Fettnäpfchen zu treten. Mittlerweile ist mein Deutsch gut geworden. So gut, dass mich neulich ein Kellner in einem Restaurant in München, nachdem er drei Stunden lang unserem Gespräch gelauscht hatte, fragte, ob ich aus Hessen käme. Er könne meinen Akzent nicht einordnen. 

 

Ich habe ihm erzählt, dass ich aus Israel komme. Er hat mein Deutsch gelobt, hat aber gleich im selben Atemzug angefangen, ein nicht auf mich bezogenes Ausländer-Bashing zu betreiben. Wie "sie" (die "Ausländer", oft ein Code-Wort für Deutsche mit Migrationshintergrund) sich einfach nicht integrieren wollen, kein Deutsch sprechen würden, auf Harz-IV leben würden. Es folgte ähnlicher faktenfremder Unsinn, den ich hier nicht zu Papier bringen möchte. 

 

Das passiert mir oft. Manche Leute lassen sich von meinem Deutsch blenden. Ich werde in deren Augen plötzlich zu "einer von uns". Sie blenden es aus oder sind sich gar nicht bewusst, dass ich in Deutschland vor allem eine Migrantin bin. Ein Mensch, eine Frau, eine Israelin, eine atheistische Jüdin, die in Deutschland (und wahrscheinlich überall auf der Welt) immer ambivalente Gefühle hat: dazuzugehören und gleichzeitig nicht. Egal wie unterschiedlich die kulturellen Hintergründe sind, fühle ich mich den Asylbewerbern, den frischen Migranten oder den "Deutschen mit Migrationshintergrund" der 2. und 3. Generation viel näher als jenem Deutschen, der die Menschen etikettiert und in Gruppen unterteilt, voller Vorurteile und Ignoranz, nur weil vielschichtiges, komplexeres Denken, das immer auch mit Gegensätzen behaftet ist, zu anstrengend ist! 

 

Durch meine eigene Migrationserfahrung bin ich der Geschichte meiner Großeltern, die 1951 aus dem Irak nach Israel flohen, nähergekommen. Plötzlich verstehe ich die Dualität ihrer Identität als "jüdische Araber" in Israel (ein Oxymoron, ein Begriff, der sogar im modernen Israel nicht gerne verwendet wird, da die "Araber" leider immer noch den "Feind" symbolisieren). Meine Großeltern haben damals viel aufgeben müssen, um sich in das Bild "des neuen Israeli/Juden" einzupassen: Ihr Nachname (der gleich bei Einreise zu einem hebräischen Namen geändert wurde), ihre Muttersprache Arabisch, die noch nicht einmal mehr zu Hause gesprochen wurde, ihre Kultur, ihre Musik und die Geschichten ihrer Kindheit. 

 

Ich kann mich noch an das lachende Gesicht meines Großvaters freitagabends erinnern, wenn im israelischen Fernsehen der ägyptische Film lief, mit Musik von Farid al-Atrache. Er lächelte wie ein Kind, das tausend Geschenke bekommen hat. Pure Freude, vielleicht ein Gefühl von Freiheit, sich nicht nach außen filtern zu müssen, keine Masken tragen zu müssen. Als ob man alleine zu Hause ist und sturmfrei hat. 

 

Ich frage mich oft, wo ich zu Hause bin. Ob dieser abstrakte Begriff konkret greifbar ist und nur an einen Ort oder einen Menschen gebunden ist. Oder ist das ein Gefühl, das sich nur im Nachhinein oder im Kontrast zu anderen Gefühlen kristallisiert. Kann ich ein Zuhause-Gefühl entwickeln für einen Ort, an dem ich fast durch Zufall gelandet bin? 

 

Jahrelang habe ich mir kein Jahres-Abo für den Berliner öffentlichen Nahverkehr gekauft. Ich dachte, dass ich gleich morgen weg sein könnte: New York, Tel Aviv, Chicago? Lustigerweise ist es nun so weit. Ich weiß, dass ich in Berlin bleiben möchte. Bloß bin ich jetzt durch meine Konzertreisen und das Unterrichten so viel in Europa unterwegs, dass es wirklich kein Sinn mehr hat, ein Jahresabo zu kaufen. Es klingt fast wie ein Widerspruch, aber jetzt kann ich sagen, dass ich in Berlin bleibe, weil Berlin für mich zu einem "länderunspezifischen Ort" geworden ist. Es gibt hier so viele Leute aus so vielen Gegenden der Welt, dass eine duale Identität keine Entweder-oder-Frage mehr sein muss und in keinem Konflikt mehr steht. Ich darf alles gleichzeitig sein. Vielschichtig, komplex, gegensätzlich. Genau so, wie wir alle sind"